13 Führerscheine – 13 Schicksale

13 Führerscheine von jüdischen Bürgern wurden im Jahr 1938 im oberfränkischen Lichtenfels eingezogen. 13 Führerscheine tauchen im Jahr 2017 unerwartet wieder auf. Wer waren diese Menschen? Wie viele von ihnen konnten dem Nationalsozialismus entkommen? Lichtenfelser Schüler haben Antworten gesucht – und gefunden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fanden in ganz Deutschland organisierte Pogrome gegen Juden statt. Zahllose jüdische Geschäfte, Wohnungen, Synagogen und Friedhöfe wurden in dieser Nacht zerstört und geplündert. Heute wird vermutet, dass mindestens 1300 Menschen unmittelbar in Folge der Ausschreitungen starben.

Die Novemberpogrome bedeuteten den Anfang der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden in Deutschland. In Folge der Reichspogromnacht wurden 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt, jüdische Geschäftsleute wurden zwangsenteignet. Im Zuge der Entrechtung der Juden erließ Heinrich Himmler am 3. Dezember 1938 einen Erlass, der alle Juden dazu zwang, zunächst ihre Führerscheine und später auch ihre Autos und Motorräder abzugeben.

Als im Landratsamt Lichtenfels 2017 alte Akten digitalisiert wurden, fanden Mitarbeiter einen 80 Jahre alten Umschlag. Darin waren 13 Führerscheine, die jüdische Bürger Lichtenfels zwangsweise abgeben mussten. Landrat Christian Meißen wandte sich an die Schüler des Merianer-Gymnasiums Lichtenfels, damit diese im Projektseminar Geschichte die Schicksale der 13 Personen rekonstruieren. Am 5. November haben die Schüler ihre Ergebnisse vor geladenen Gästen vorgestellt. Manche Angehörige der einstigen Führerscheinbesitzer sind sogar aus den USA angereist, um die Ausstellung zu besuchen und den Führerschein persönlich in Empfang zu nehmen.

Sophie Rauh

Die Schülerin Sophie Rauh, 18 Jahre alt, hat an diesem Projekt mitgearbeitet und die Geschichte des Juden Leo Wolf rekonstruiert.

In eurem Seminar hat jeder von euch einen Führerschein zugeteilt bekommen, mit dem Ziel, den Lebenslauf des Besitzers nachzuvollziehen. Wie seid ihr bei eurer Recherche vorgegangen?

Wir haben erstmal über Deportationslisten und Internetseiten gearbeitet. Über Seiten wie Ancenstry oder Find a Grave. Und das war vor allem praktisch, um herauszufinden:

Haben die Führerscheinbesitzer den Holocaust überlebt? Gibt es noch lebende Angehörige?

Die, die noch lebende Verwandte gefunden haben, haben vor allem bei denen angesetzt. Sie haben sie über Facebook und per E-Mail kontaktiert. Sie haben jüdische Gemeinden in der Nähe kontaktiert und sind so zu Kontaktadressen und dadurch auch an Informationen und Dokumente gekommen. Ich hatte jemanden, der nicht überlebt hat.

Wir sind natürlich auch ins Archiv hier in Lichtenfels gegangen. Und für die von uns, die Altenkunstadter Juden hatten, war auch ein Gespräch mit einer Zeitzeugin sehr interessant. Mit der haben wir uns dann ein bis zwei Stunden unterhalten. Sie konnte uns viel Menschliches über unsere Personen sagen, vor allem über Leo Wolf, weil sie mit seiner Tochter gut befreundet war.

Das heißt, sie hat ihn tatsächlich noch persönlich gekannt?

Genau. Sie hat in der Nachbarschaft gelebt und sie war öfter mit ihnen unterwegs, weil Leo Wolf ja ein Auto hatte, was etwas ganz Besonderes war. Er hat sie immer in die fränkische Schweiz und zum Eis essen mitgenommen. Margot, die Tochter von Leo, war auch auf ihrer Kommunion.

Mit welchen Problemen hattet ihr im Laufe der Recherche zu kämpfen?

Bei mir persönlich war es durch dieses Gespräch sehr einfach. Aber ich weiß, dass auch einige Probleme hatten. Die Familie von Jenny Kraus ist zum Beispiel nach Buenos Aires ausgewandert. Dort konnte uns aber die jüdische Gemeinde nicht weiterhelfen und dann hieß es erstmal Ende Gelände. Bis wir dann auf einen dortigen Privatdetektiv gekommen sind, der uns dann den Kontakt zu ihrer Enkelin hergestellt hat. Sie ist dann sogar zu unserer Ausstellung gekommen.

Im Endeffekt seid ihr also bei allen Personen fündig geworden?

Ja. Bei manchen aber ein bisschen weniger als bei anderen.

Einige von uns haben Verwandte angeschrieben oder auch angerufen, die aber keinen Kontakt mit Deutschen wollten. Eine Amerikanerin, die Enkelin eines anderen Führerscheinträgers, hat uns dabei sehr weitergeholfen. Sie hat bei dieser Familie angerufen und ihnen erklärt, dass das Projekt schon etwas Legitimes ist und dann haben wir auch von dieser Familie Dokumente bekommen.

Wie haben die Angehörigen sonst auf den Fund der Führerscheine reagiert?

Die waren erstmal fassungslos. Das merkt man, wenn man sich die ersten E-Mails durchliest. Klar waren sie skeptisch. Ich meine, wenn auf einmal aus Amerika eine E-Mail zu mir kommen würde: „Wir haben Dokumente von deinem Uropa“ oder so, dann wäre ich auch erstmal sehr verwirrt. Das käme so aus dem Nichts.

Eine Familie, mit der wir am Abend vor der Ausstellung essen waren, um uns schon mal ein bisschen kennenzulernen, hat auch gesagt: „Naja, wir waren uns nicht sicher, ob wir jetzt familiäre Dokumente einfach so weiterschicken, wir kennen ja die Leute gar nicht.“ Aber am Ende waren sie echt froh, dass sie es gemacht haben. Sie haben die ganze Ausstellung lang immer wieder Freudentränen geweint. Die hat das echt berührt.

Wie sieht denn jetzt das Ergebnis eurer Nachforschungen aus?

Wir haben 13 Leben wieder rekonstruieren können, die sonst vielleicht… Naja, die Zeitzeugen werden immer älter, die Erinnerungen verblassen. Ich finde, wir konnten ein Stück weit gegen das Vergessen angehen. Wir haben die Schicksale aufgeschrieben und konnten sie damit für die Zukunft bewahren. Das ist sehr wichtig.

Wir haben auch Familien wieder zusammengeführt. Die eine Gruppe Amerikaner hatte sich schon Jahre nicht gesehen und durch diesen Kontakt sind sie wieder zusammengekommen, was sehr emotional war. Wir haben wirklich Menschen verbunden und ihnen geholfen, ihre Wurzeln wieder zu finden.

Wie viele der 13 Menschen haben überlebt?

Acht von ihnen sind geflohen, fünf haben den Holocaust nicht überlebt.

Welches Schicksal hat dich am meisten berührt?

Es gab natürlich vor allem von denen, die nicht überlebt haben, sehr viele berührende Schicksale. Ich denke, mich persönlich hat schon das von Leo Wolf am meisten berührt, weil ich einfach am nächsten dran war und auch mit der Zeitzeugin gesprochen habe. Wenn sie einem erzählt, die Altenkunstadter sind im Fenster gesessen, als die Juden deportiert wurden und haben durch die Vorhänge gelugt und da läuft die Kolonne an Juden zum Bahnhof und vorne dran Leo Wolf mit seinen Kriegsabzeichen aus dem ersten Weltkrieg an der Brust, da war dann auf einmal Stille im Raum. Das hat mich persönlich sehr berührt.

(v.l.) Helene, Leo und Margot Wolf

Leo, Helene und ihre gerade mal 13-jährige Tochter Margot wurden am 24. April 1942 mit den anderen verbliebenen Altenkunstadter Juden gen Osten deportiert. Der Transport führt erst gemeinsam mit den Burgkunstadter Juden nach Bamberg, dann über Nürnberg nach Belzec oder Sobibor. Wo genau sie den Tod fanden ist nicht bekannt. (Dokumentation „13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale“)

Was hast du persönlich aus diesem Projekt mitgenommen?

Ganz einfach gesagt, dass sowas nie wieder passieren darf.

Und dass in einer Masse von Menschen viele Einzelschicksale stecken. Das hat die Geschichte viel näher an mich herangebracht.

Wie wichtig sind solche Projekte heutzutage?

Sehr wichtig. Also ich persönlich finde, dass über den Nationalsozialismus in der Schule sehr viel geredet wird. Fast ein bisschen zu viel, aber weil es halt auch einfach so trocken ist. Man lernt Fakten und man sieht diese Bilder aus den Konzentrationslagern. Aber man verbringt viel zu wenig Zeit damit, Einzelschicksale zu behandeln.

Deshalb finde ich solche Projekte, die die Erinnerung fördern, wichtig und sie werden
wichtiger mit jedem Jahr, das vergeht.

Die Sonderausstellung „13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale“ kann noch für kurze Zeit besichtigt werden. Die Termine befinden sich im

Marie Wetzel

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