Der Kastanienhof Ansbach bietet für insgesamt 32 Kinder und Jugendliche ein neues Zuhause. In verschiedenen Hilfsangeboten wird individuell auf die Kinder eingegangen und ihnen ermöglicht, zurück in ihre Familie oder die Selbstständigkeit zu finden. Wie genau der Alltag im Heim aussieht, erzählt uns Betreuer Albert Lohrer im Interview.
Herr Lohrer, wie sieht ein typischer Alltag einer Wohngruppe im Kastanienhof aus?
Es ist ehrlich gesagt sehr ähnlich wie in einer Familie. Die 32 Kinder und Jugendlichen sind in vier Gruppen zu je acht Kindern aufgeteilt. Morgens klingelt der Wecker, es gibt Frühstück und danach geht es für die Kinder in die Schule. Mittags gibt es Essen, das in der Zentralküche gekocht wurde. Wichtig ist, dass die Kinder beteiligt werden und wie in einer Familie mithelfen und beispielsweise den Tisch decken müssen. Gerade ältere Jugendliche, die nicht in ihre Familien zurückkehren, müssen lernen, selbstständiger zu werden.
Albert Lohrer (65) ist im Kastanienhof in erster Linie für die Wohngruppen verantwortlich. Hierbei kümmert er sich nicht nur um das Personal, sondern vor allem um das Wohlbefinden der Heimkinder.
Nach den Hausaufgaben haben die Kinder die Zeit bis 18 Uhr zur freien Verfügung. Eine Einschränkung der Freizeit gibt es nur bei bestimmten Vorfällen wie beispielsweise Diebstahl. Dann ist es trotzdem noch sehr wichtig, die Freizeit sinnvoll zu gestalten, um das Interesse der Kinder zu fördern.
In den vier Wohngruppen des Kastanienhofes leben 32 Kinder und Jugendliche. Die jungen Menschen kommen auf Intervention des Jugendamtes in den Kastanienhof – in der Regel mit Zustimmung der Eltern, um die Probleme gemeinsam anzugehen und eine Rückkehr in die Familie anzustreben.
Ein weiteres Angebot im Kastanienhof ist die Heilpädagogische Tagesstätte. Hier werden 33 Kinder von vier bis zwölf Jahren von Montag bis Freitag nach der Schule bis 17 Uhr betreut. Diese Maßnahme hilft, die Eltern zu entlasten und so einen erneuten Zugang zu ihren Kindern zu finden. Ein wichtiges Hilfsangebot stellen die Ambulanten Hilfen dar. Die Mitarbeiter unterstützen die Familien durch Erziehungsbeistandschaften, sozialpädagogische Familienhilfen und sozialen Trainingskursen.
Des Weiteren bietet der Kastanienhof ein Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Diese leben in zwei Wohngruppen außerhalb des Stammhauses. Zudem sind auch in den Wohngruppen des Kastanienhofes einzelne unbegleitete Flüchtlinge, die hier besonders schnell die deutsche Sprache erlernen und sich so gut integrieren können.
Haben alle Heimkinder Kontakt zu ihren Eltern?
Die meisten, ja. Selbst wenn einem Elternteil durch das Gericht das Sorgerecht entzogen wurde, bleiben wir mit dem Elternteil im Gespräch. Der Mutter eines Mädchens wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und trotzdem wird noch mit der Mutter kommuniziert. Uns ist es wichtig, nicht gegen, sondern mit den Eltern zu arbeiten. Kein Kind soll das Gefühl haben, dass es dazwischen steht.
Natürlich ist das nicht immer möglich. Bei sexuellem Missbrauch wird oft nicht mit den Eltern kommuniziert. Wir hatten einmal solch einen Fall, bei dem der Vater direkt ins Gefängnis musste. Die Eltern lebten getrennt. Jetzt ist der Kontakt so gut, dass sie nun bei ihrer Mutter wohnt. Es wird also immer geschaut, welche Familienmitglieder es gibt und ob sie einen guten Lebensraum bieten können.
Geben Eltern ihr Kind auch selber ins Heim?
Ja, das kommt vereinzelt auch vor. Wir hatten beispielsweise einen Fall, bei dem das Kind nur noch vor seiner Spielkonsole saß. Der Junge ging nicht mehr in die Schule und die Mutter hatte die Kontrolle über ihn verloren. Also wandte sie sich ans Jugendamt. Man darf nicht vergessen, dass es auch für die Eltern ein Riesenschritt ist, sich Hilfe zu holen, da sie es oft als eigenes Versagen erleben. Bei so einer Überforderung müssen Eltern bestärkt werden, damit sie es schaffen, neue Grenzen zu setzen.
Als freiwillige Maßnahme wurde das Kind vorerst im Heim untergebracht. Die Mutter war unglaublich froh über die Hilfe. Erst hat ihr Sohn natürlich auch hier versucht, nicht in die Schule zu gehen. Allerdings wurden die Betreuer konsequenter und der Junge hielt sich besser an Regeln. Anschließend versuchten wir eine langsame Rückführung in die Familie. Erst eine Übernachtung und dann zwei. Man überprüft, ob das Kind wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt und die Schule schwänzt. Oft hilft aber schon die Distanzierung, damit die Kinder ihre Eltern und ihr Zuhause mehr schätzen und ein Umdenken stattfindet.
Bis zur Volljährigkeit ist der Heimaufenthalt über das Jugendamt geregelt. Anschließend haben die Kinder die Möglichkeit, selbst einen Antrag zu stellen, der nach Überprüfung der Mitarbeit, meist vom Jugendamt genehmigt wird. Der Kastanienhof nimmt Kinder ab einem Alter von sechs Jahren auf. Derzeit ist der jüngste Heimbewohner acht Jahre alt. Die meisten sind allerdings Jugendliche zwischen 15 und 16 Jahren.
Als Ziel eines Aufenthalts gilt meist die Rückführung in die Familie und bei Jugendlichen das Streben in die Selbstständigkeit. Was genau passiert jedoch mit Kindern, deren Familien sich nicht als Lebensraum eignen?
Wenn eine Rückführung nicht möglich ist, dann bleiben die Kinder bei uns. Es wird geprüft, ob eine Pflegefamilie in Frage kommt. Meistens ist es aber so, dass beispielsweise eine Ausbildung absehbar ist. Dann bleiben die Jugendlichen entweder in ihrer Wohngruppe oder kommen in einem eigenen zusätzlichen Zimmer unter. Und können mit Anschluss an die alte Wohngruppe ihren eigenen Weg in die Selbstständigkeit gehen.
Auch die Integration unbegleiteter Flüchtlinge ist ein großes Ziel Ihrer Einrichtung. Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit diesen?
In meinen Wohngruppen waren bisher fünf Flüchtlinge untergebracht. Jeder einzelne war sehr wissbegierig und auch integrationswillig. Nur einer, an den erinnere ich mich jetzt noch: Zu Beginn legte er eine große Motivation an den Tag, als er dann jedoch gemerkt hat, dass es immer neue Anforderungen geben wird, wollte er einfach nicht mehr. Das war für mich eine riesige Verschwendung von großem Potential.
Welche Probleme gibt es häufig mit Kindern, die aus schlechten Verhältnissen kommen?
Manchmal ist es gar nicht so einfach, sich von anderen Kindern nicht anstacheln zu lassen. Dies gilt auch in Bezug auf Drogen, die selbst im Umkreis von Schulen zu haben sind. Die Kinder müssen sich aber immer selber fragen: „Was ist mein Weg?“ … Und dafür müssen sie dann die Verantwortung übernehmen.
Sehen Sie einen allgemeinen Anstieg der heimbedürftigen Kinder?
Bei uns im Kastanienhof bleibt die Anzahl der Kinder eher konstant. Aber es ist eine ganz eindeutige Zunahme an Anfragen erkennbar. Leider sind die Fälle aber oft so schwierig, dass man sie nicht aufnehmen kann. Hierfür wäre einfach mehr Betreuung nötig.
Wo sehen Sie auf Seiten des Staats und der Gesellschaft am meisten Veränderungsbedarf im Hinblick auf Kinderheime und Heimkinder?
Ich persönlich sehe eine riesige Ungerechtigkeit bei Jugendlichen, die eine Ausbildung machen. Es ist nämlich gesetzlich geregelt, dass sie hierbei 75 Prozent ihres Lohns ans Jugendamt abgeben müssen. Wie sollen die Kinder denn so ohne irgendwelche Rücklagen ins Leben starten?
Aber auch gesellschaftlich läuft noch einiges schief. Einen Heimaufenthalt sehen viele oft als einen Makel. Und daran erkennt man auch oft noch das veraltete Bild, das Menschen von einem Kinderheim haben. Wir hatten einmal Kontakt zu einer Kinderärztin, die einem Heimkind Reitstunden finanzieren wollte, nur damit sie sich nicht mehr im Heim aufhalten muss. Natürlich gibt es vereinzelt immer noch Verbesserungsmöglichkeiten, aber man darf trotzdem nicht vergessen, wie viel sich in letzter Zeit verändert hat.
Versuchen Sie eine Distanz zu den Heimkindern zu schaffen oder ist das gar nicht möglich?
Meine Arbeit im Kinderheim ist eine sehr emotionale Arbeit. Natürlich ist jeder Mensch unterschiedlich, aber ich mache meinen Job nun seit 35 Jahren und es geht mir manchmal immer noch sehr nah. Ich muss bei Entscheidungen einen klaren Kopf behalten, aber nach dem Arbeitstag komplett abschalten kann ich nur sehr selten.
Haben Sie noch Kontakt mit Kindern, die nicht mehr im Kinderheim leben?
Ja, vor allem Bezugserzieher haben oft noch telefonischen Kontakt. Manchmal kommen auch alte Heimkinder zu Besuch, die das Heim nicht einmal im Guten verlassen haben. Trotzdem möchten dann viele zeigen, was aus ihnen geworden ist.
Gibt es einen Fall, der Sie persönlich sehr berührt hat oder Ihnen im Gedächtnis geblieben ist?
Schwer zu sagen. Der Flüchtling, der sich für den falschen Weg entschieden hatte, der blieb mir sehr lange im Kopf. Trotzdem glaube ich, dass es nicht ein Einzelfall ist, der mich so berührt. In meiner Arbeit erfahre ich immer wieder neue Schicksale und jeder Fall ist für mich etwas sehr besonderes!