In Deutschland gibt es ca. 80.000 Pflegekinder, Tendenz steigend. Demgegenüber nimmt die Zahl der Pflegschaften immer weiter ab. Das Paradoxe daran ist, dass Kinderwunschkliniken boomen wie noch nie. In was für einer Gesellschaft leben wir?
Mit 200 km/h rast der gelbe Mustang die dunkle Landstraße entlang. Plötzlich fährt ein grüner Lastwagen aus der Wiese. Die Reifen des Mustangs quietschen, der Fahrer schreit und drückt mit aller Kraft auf die Bremse, aber es ist zu spät: Der LKW und das Auto prallen mit voller Wucht aufeinander. Mehrmals überschlagen sich beide Kraftfahrzeuge, bis der gelbe Mustang kopfüber zum Stehen kommt. Kurz darauf biegt ein Rettungswagen um die scharfe Kurve, der Sanitäter verliert die Kontrolle über seinen Wagen und auch er rast mit voller Wucht in den Sportwagen. Von weitem hört man ein lautes Rattern aus der Luft. Das große rote Kreuz an der Hubschraubertür lässt Hoffnung aufkommen. Die Rettung ist nah, alles wird gut. Aber kurz vor seinem Ziel stürzt auch dieser spektakulär ab. Alle sind tot. Ende der Geschichte.
So oder so ähnlich finden jeden Tag viele Unfälle auf dem farbenfrohen Verkehrsteppich in der Praxis von Dr. Anne Herzog, Kinderpsychotherapeutin in Schweinfurt, statt: „Wenn ein Pflegekind überhaupt symbolisch spielen kann, ist der Verkehrsteppich nach kurzer Zeit ein Trümmerfeld.“ Während bei Kindern aus behüteten Familien am Ende des Spiels die Verkehrsopfer ins Krankenhaus gebracht werden, untersagt sich das Pflegekind die Möglichkeit einer Heilung. „Da gibt es kein Happy End.“
Anne Herzog arbeitet seit 24 Jahren mit traumatisierten Kindern. 80 Prozent ihrer jungen Patientinnen und Patienten leben nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern. Im Auftrag des Jugendamts hält sie seit vielen Jahren Vorbereitungskurse und Workshops für Pflegeeltern.
In Deutschland gibt es ca. 80.000 Pflegekinder, Tendenz steigend. Demgegenüber nimmt die Zahl der Pflegschaften immer weiter ab. Das Paradoxe daran ist, dass Kinderwunschkliniken boomen wie noch nie. Kinderlose Paare geben enorme Summen aus und begeben sich in psychischen und physischen Stress, um doch noch ein biologisches Kind zu zeugen. „Wer macht das heute schon noch… ein fremdes Kind aufnehmen? Das wird immer weniger“, beobachtet Anne Herzog.
Familienhilfe
Der achtjährige Jakob sitzt auf einem zu großen Stuhl im Rektorat seiner Schule. Er weiß, warum er hier sein muss. Er hat zum wiederholten Mal einem anderen Kind sein Spielzeug weggenommen und nun wird von ihm erwartet, dass er sich schuldig fühlt. „Wie wäre denn das für dich, wenn man dir was abnimmt?“, fragt die Schulleiterin und wartet auf seine Antwort. Aber Jakob fällt dazu nichts ein und weil dem Achtjährigen die Worte fehlen, das Nichts zu beschreiben, schaut er auf seine Füße. Als er den Raum verlassen darf, antwortet Kathrin Ziegler für ihn: „Die leibliche Mutter ist ihm weggenommen worden, die Pflegefamilie ist ihm weggenommen worden – er hat nur noch
seine Jacke und seine Hose. Er hat nichts mehr, das man ihm wegnehmen könnte. Das kann man ihn nicht fragen.“ Frau Ziegler war Jakobs gesetzlicher Vormund. Hätte er operiert werden müssen, wäre ihre Zustimmung nötig gewesen. Hätte er eine Zahnspange gebraucht, hätte sie unterschreiben müssen. Und wenn er eines Tages eine neue Pflegefamilie bekommen hätte, wäre sie einmal im Monat bei ihm gewesen, um zu prüfen, ob es ihm gut geht.
„Wenn es um Herausnahmen ging, waren wir die Taskforce.“ So beschreibt Frau Ziegler ihren ehemaligen Job als sozialpädagogische Familienhelferin beim Jugendamt in Schweinfurt. Familienhelferin, ein seltsamer Begriff für jemanden, dessen Beruf es ist, Kinder von ihren leiblichen Eltern zu trennen. „Ja, das höre ich immer wieder: das böse Jugendamt! Aber bis es wirklich soweit kommt, dass das Jugendamt sagt ‘die Kinder müssen raus‘, muss mein Bericht den Jugendamtsmitarbeiter überzeugen, der muss seinen Chef und der muss seinen Chef überzeugen, um überhaupt einen Antrag bei Gericht stellen zu können. Und dann hat man noch einen Familienrichter, der wiederum einen Verfahrenspfleger hat, der wiederum einen Gutachter beauftragt, der sich sein eigenes Bild macht. Es muss ziemlich viel schiefgehen, bevor das Kind aus der Familie genommen wird.“
„Unser Recht ist ein Elternrecht“
Die Geschichte des siebenjährigen Christian ist so ein Fall, bei dem alles schiefging. Mittlerweile lebt er bei einer Pflegefamilie, die sich für ein behindertes Kind entschieden hat. Christian kam gesund zur Welt. Von dessen Geburt wusste das Jugendamt nichts, da es händeringend Beweise suchte, um den älteren Bruder aus der Familie nehmen zu können. Als der Vater die Hoden seines Erstgeborenen abriss, war die Beweislage klar: zu spät – auch für Christian. Heimlich geboren, quälte der Vater ihn, bis er geistig und körperlich schwerst behindert war. Er bekommt jetzt eine monatliche Rente ausgezahlt, an die weder die leibliche noch die
Pflegefamilie kommt. Das Geld soll ihm eines Tages eine Unterbringung in einem Heim finanzieren. Sollte Christian jedoch vor seinen leiblichen Eltern sterben, bekommen diese das Geld. „Das muss man sich mal vorstellen! Da bekommt so ein Mensch einen Bonus dafür, dass er das Kind gequält hat“, schildert Simone H., 51, selbst Pflegemutter von zwei Kindern, den Vorfall: „Dass immer erst etwas passieren muss, bevor man helfen kann…!“
„Unser Recht ist ein Elternrecht“, erklärt Frau Ziegler. „Es ist das Recht der Eltern ihre Kinder zu erziehen und auch ihre Pflicht.“ Sechs Monate bekam die ehemalige Familienhelferin Zeit, um einen Bericht für das Jugendamt zu verfassen, der mitunter darüber entscheidet, ob ein Kind in seiner leiblichen Familie bleibt oder es herausgenommen werden muss. Für dieses halbe Jahr wird ein Hilfeplan zusammen mit der Familie erstellt. Ziele werden formuliert, wie zum Beispiel, dass das Kind pünktlich in der Schule sein muss, dass es sauber angezogen ist, dass weniger geschrien wird. Grenzen, Konsequenzen, Klare Strukturen. Aber was, wenn die Ziele nicht eingehalten werden? Wenn der Kindergarten zum fünften Mal anruft und das Kind wieder verschimmeltes Brot dabei hatte? „Um wirklich eine Herausnahme mit einem Sorgerechtsentzug zu machen, muss ambulant alles ausgeschöpft sein. Aber häufig kommt noch die Situation hinzu, dass das Jugendamt und die Familienhilfe sich einig sind, dass das Kind raus muss, wir nur Indizien, aber keine Beweise haben. Und vor dem Richter muss das ganze auch Stand halten!
Wenn ich nicht genug in der Hand habe und werde vor Gericht abgewiesen, dann habe ich keine Chance mehr in die Familie reinzugehen. Und dann sind die Kinder alleine.“
Eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera
An der Front zu arbeiten, wie es die Sozialpädagogin ausdrückt, bedeutet einen langen Atem haben zu müssen. Viele Kindeswohlgefährdungen gehen ihr bis heute nach. Insbesondere
jene Momente, in denen sie nichts tun konnte und überzeugt war, dass die Familie „eine Leiche im Keller“ habe. Sie erinnert sich an Familie Schmidt. Immer wieder wurde das Jugendamt aufgrund von Drittmeldungen auf die Familie aufmerksam gemacht. „Der Junge randaliert!“, hieß es, „der Junge läuft in der Ortschaft auf den Autos rum!“. Aber jedes Mal, wenn Frau Ziegler Familie Schmidt besuchte, stand auf dem Tisch ein frisch gebackener Kuchen bereit und der Junge „war wie ein kleiner Soldat – immer höflich und total süß“. Also ging sie wieder, aber das dumpfe Gefühl im Bauch blieb. Das zweite Mal kam die Familienhelferin aufgrund eines Anrufs aus der Schule: Das Kind ritzte sich die Haut auf, aber das Haus war tipptopp sauber und der Junge lächelte artig. Frau Ziegler musste auch dieses Mal das Feld räumen. Der dritte Anlauf war erfolgreich, wenn man das so sagen möchte. Der Junge brach sich selbst seinen Arm und damit das Schweigen seiner Familie. Es stellte sich heraus, dass die Frau nicht die leibliche Mutter war und den Jungen als Konkurrenz zum Vater betrachtete. „Sie hat ihm null Liebe, null Zuneigung geschenkt. Die Eltern haben ihn dann freiwillig abgegeben“, berichtet die Sozialpädagogin.
Das misshandelte Kind mit der Hoffnung auf Besserung bei den leiblichen Eltern lassen, oder das Kind mit dem Risiko, dass es weiteren traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sein wird, dem Staat in Obhut geben? Was sich anhört wie eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera, ist zumindest eine Wahlmöglichkeit, die Pflegekinder oft nicht haben. „In den ersten drei Jahren kann ein Kind nicht anders, als sich mit seiner Umgebung zu identifizieren. Auch wenn diese Umgebung aus Gewalt, Lärm und Sauferei besteht, kann es sich nicht abwenden und sagen ‘ach nein, das will ich jetzt nicht‘“, erklärt Anne Herzog und untermauert die Studie mit einer Anekdote aus ihrer Praxis: Ein traumatisierter Junge sollte seine langjährige Pflegefamilie mit Spielfiguren aufstellen. Die Pflegemutter wurde liebevoll als Kuh auf den Spielplatz gestellt, gleich daneben der Pflegevater als Bären. Für sich selbst wählte das Kind ein Monster. Weil Anne Herzog nicht verstehen konnte, wie zu einer Kuh und einem Bären ein Monster passe, bat sie das Kind, seine leibliche Familie aufzustellen: „Und dann kam ein Monster nach dem anderen. Dementsprechend war klar: Auch wenn ich in einer tollen Pflegefamilie aufwachse: Ich bin ein Monsterkind.“
Die Vergangenheit ist ein Rucksack, den man immer mit sich trägt
Dieser Grundsatz steckt in vielen Pflegekindern fest. Vielfach werden die Herkunft des Kindes und dessen ganz eigene Vorgeschichte bzw. Traumata von Pflegeeltern nicht erkannt oder nicht berücksichtigt, da sie sich eventuell mit Themen wie Sucht und Missbrauch auseinandersetzen müssten. Mit Themen, die der Pflegefamilie fremd sein können, dem Kind aber Sicherheit geben, wird oftmals versucht, die alten Gewohnheitsmuster wiederherzustellen. Pflegemutter Simone H. weiß, was das bedeuten kann. Sie erinnert sich noch lebhaft an den Abend vor zwölf Jahren, als ihre Pflegetochter Eva das teure Parfüm entdeckte, das sie wenige Tage zuvor von ihrem Mann zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. „Das hast du von Papa bekommen, stimmt´s? Was machst du, wenn ich das jetzt herunterschmeiße?“ fragte die Vierjährige provokant ihre Pflegemutter, den Arm hoch über den Kopf gestreckt, in der Hand das Geschenk fest umklammernd. „Das kannst du dir schon unterstehen!“, ruft Simone H. noch, aber da knallt es schon und unzählige blaue Scherben verteilen sich über den Boden. Instinktiv packt Simone H. das barfüßige Kind, trägt es aus der Gefahrenzone und sucht sofort alle Splitter zusammen. Kein Wort verlässt ihre Lippen dabei. In der Erinnerung verweilend, schaut Simone H. auf ihre Kaffeetasse und einen stillen Augenblick später fügt sie hinzu: „Da hast du echt mit dir zu kämpfen…“. Heute sagt sie, dass sie unter Schock stand. Vermutlich war aber dieses „Nichtreagieren“ genau richtig.
„Toben, schreien, vielleicht sogar noch eine Ohrfeige, dann hat es das Kind geschafft, dass wir in seinem Theaterstück sind und das wiederholen, was es in seiner Herkunftsfamilie gelernt hat – die Wiederholung der Urszene.“ erklärt Therapeutin Anne Herzog. Die Pflegeeltern werden nicht selten gereizt und manipuliert, damit das vertraute Bild wieder entsteht und bestätigt wird: „Ich bin ein Monsterkind“.
Ankommen
Momentan vergeht kaum ein Tag, ohne dass Eva nicht ihre Pflegemutter umarmt und ihr sagt, dass sie die beste Mama auf der Welt sei. Aber bis die heute 16-Jährige das Bindungsangebot ihrer Familie annehmen konnte, war es ein langer Weg für alle Beteiligten. Als Eva zu ihren Pflegeeltern kam, hatte das Paar bereits einen leiblichen Sohn, der schwerbehindert geboren wurde. Ihr Mann hätte gerne noch weitere Kinder gehabt, aber für Simone H. war das Thema „leibliche Kinder“ beendet. Die Angst, ein zweites behindertes Kind auf die Welt zu bringen, war zu groß. Sie entschieden sich gemeinsam dafür, Pflegeeltern zu werden. Eva war sechs Monate alt, als sie in ihre neue Familie kam. Ein Baby noch, das Punkt 23 Uhr anfing zu schreien. „Man konnte einen Wecker danach stellen“, erinnert sich Simone: „Das ging ein halbes Jahr lang. Natürlich habe ich versucht sie zu trösten, weil der Rest der Familie musste ja schlafen!“ Aber kein Wiegen, kein Streicheln half dem Säugling sich zu beruhigen. Je mehr sie versuchte, Eva zu trösten, desto panischer schrie sie. „Irgendwann habe ich angefangen, sie einfach zu mir ins Bett zu legen. Anfassen durfte ich sie nicht, aber sie hat die ganze Nacht mein Hemd festgehalten.“ Wie zum Beweis nimmt Simone H. das Ende ihrer Bluse und rollt den Stoff so zusammen, dass sich eine Kinderhand daran festhalten könnte. „Sie hat immer Angst gehabt, dass ich weggehe…“, sagt sie und schaut liebevoll lächelnd auf die Stelle ihrer Bluse, die nun zerknittert auf ihrem Oberschenkel liegt.
Ein möglicher Abschied
Trotz aller Vorbereitungskurse vom Jugendamt und den vielen Gruppentreffen mit erfahrenen Pflegeeltern, konnte niemand Simone H. emotional auf das vorbereiten, was noch kommen sollte. Evas leibliche Mutter begann sich um das Sorgerecht für ihre Tochter zu bemühen, das sie damals aufgrund ihrer Alkoholsucht verloren hatte. Den ersten Brief von ihrem Anwalt erhielt Simone H. kurz nachdem die leibliche Mutter aus dem Entzug kam. Zuerst sollten die zwei älteren Geschwister von Eva, auch bei Pflegeeltern lebend, zurückgeführt werden. Ein Kind nach dem anderen. Langsam. Aber sicher.
„In den zwei Jahren bin ich bestimmt um zehn Jahre gealtert“, erzählt Simone H. niedergeschlagen: „Vor jeder Gerichtsverhandlung hatte ich Panik. Was habe ich meinem Jungen angetan? Er versteht doch nicht, warum seine Schwester jetzt wieder fortmuss!“
Die Angst der Rückführung schwebt wie ein Damoklesschwert über manchen Pflegeeltern. „Vor allem in den ersten zwei Jahren ist diese Angst berechtigt, aber je länger das Kind in der Familie ist, desto unwahrscheinlicher ist eine Rückführung“, erklärt Frau Memmel, Sozialpädagogin im Pflegekinderdienst des Landratsamtes Schweinfurt. Seit 25 Jahren betreut sie Pflegefamilien, bildet Bewerber aus, berät, überprüft und kümmert sich mit ihren vier Mitarbeiterinnen um die Vermittlung der Kinder, die aufgrund von Vernachlässigung, häuslicher Gewalt, Sucht oder Missbrauch heimatlos geworden sind. Im Raum Schweinfurt sind es aktuell 120 Pflegekinder.
„Der Grundsatz ist, dass wir für das Kind eine Familie suchen und nicht für die Familie ein Kind. Die Idee der Rückführung ist gesetzlich verankert. Sie steht zunächst für jedes Kind im Raum. Aber wirklich klappen tut das selten“, weiß Frau Memmel aus Erfahrung. Für Simone H. war damals klar: Sollte der Richter für die leibliche Mutter und gegen sie entscheiden, packt sie die Kinder in ihr Wohnmobil und haut ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, „ihre kleine Eva“ in die Arme einer nach Alkohol riechenden Frau zu legen. Andererseits wünschte sich Simone H., dass die leibliche Mutter ihr Leben wieder in den Griff bekommt – für ihre Tochter. Sozialpädagogin Memmel kennt diese Fälle: „Es ist eine Gratwanderung und für Pflegeeltern extrem schwer. Man wünscht ja keinem Menschen, dass es ihm schlecht geht. Gleichzeitig hat man das bedürftige Kind ins Herz geschlossen, sieht die leiblichen Eltern und weiß nicht, ob man möchte, dass sie clean werden.“
Einmal im Monat zog Simone H. ihre Pflegetochter besonders hübsch an. Eva sollte ihrer leiblichen Mutter bei den Umgangstreffen gefallen. Simone war es wichtig, alles positiv zu gestalten. Wenn sie Eva schon früher aus dem Kindergarten holen und sie beim Spielen mit ihren Freundinnen und Freunden unterbrechen musste, sollte es wenigstens ein schöner Tag für alle werden. „Aber Eva wollte nie zu ihr hin“, erinnert sich Simone H.: „Eva hat immer geschrien, wenn ihre Mutter sie im Arm hatte und wenn sie mich bat, die Kleine zu beruhigen, wurde ich vom Jugendamtsmitarbeiter geschimpft, dass ich mich nicht einmischen darf. Das wäre die Zeit der Mutter! Dann musst du dort sitzen und dein Kind brüllt“, erzählt Simone H. kopfschüttelnd und beschreibt, wie Eva auf der Heimfahrt immer wieder ausgeflippt ist, wie sie geschrien hat und auf den Vordersitz eintrat. „Zum Schluss hat die Mutter immer zu ihrer Tochter gesagt: ‚Bald bist du wieder bei mir‘. Die Jugendamtsmitarbeiterin hat versucht, das zu unterbinden, ’sie dürfte das dem Mädchen nicht sagen!‘ Aber na ja, gesagt hat sie es…“.
Das waren dann die guten Umgangstage. Manchmal hat Eva mit Simone H. vergeblich auf die Mutter gewartet. Auf telefonische Nachfrage, ob sie denn noch komme, hieß es „ich soll sie mal am Arsch lecken“, beschreibt Simone H. die weniger guten Tage: „Dem Kind sagst du natürlich, der Mutter wäre etwas dazwischengekommen. Aber irgendwann kapieren die das auch.“ Evas „Irgendwann-Moment“ kam, als ihre leibliche Mutter hochschwanger vor der mittlerweile Neunjährigen stand. Entrüstet darüber, unvorbereitet in eine solche Situation geführt worden zu sein, erzählt Simone H.: „Eva hat nur auf den Bauch gestarrt. Wir waren beide total geschockt. Danach hat sie mich immer wieder gefragt, was denn jetzt mit dem neuen Kind passiere. Sie hatte solche Angst um das Ungeborene.“
Ein Leben im Mangel
Warum darf meine Schwester bei der Mama leben? Warum musste ich weg? Bin ich nicht liebenswert? Bin ich schuld, dass die Eltern getrunken haben? Was habe ich falsch gemacht? Ein kleiner Auszug aus dem Fragenkatalog eines Pflegekindes. Tiefsitzende Schuldgefühle und die Ohnmacht, keine Entscheidungsgewalt über das eigene Leben zu besitzen, trägt beinahe jedes Pflegekind mit sich. „Ein weiteres häufiges Merkmal von Pflegekindern im Vergleich zu leiblichen Kindern ist das Thema Mangel“, zählt Frau Memmel auf: „Der Mangel an Zuwendung oder ganz direkt der Mangel an Nahrung. Woran sich die Kinder meist nicht erinnern können, aber ihre Körper und ihre Seelen schon.“
Damian, 19, ist mit zehn Monaten zu seiner Pflegefamilie gekommen. An die Trennung von seinen leiblichen Eltern kann er sich nicht mehr erinnern. Er sagt, dass er sich schon immer darüber bewusst war, ein Pflegekind zu sein, diese Tatsache aber auch nie ein großes Thema für ihn war: „Meine Pflegeeltern sind meine richtigen Eltern. Das war schon immer so und das wird auch immer so sein“, erzählt Damian freundlich, aber bestimmt. Mit dem Realschulabschluss verließ er die Schule und steckt jetzt in den letzten Zügen seiner Ausbildung zum Fachinformatiker. Aufgewachsen ist er in einer großen Familie mit fünf Schwestern und einem Bruder, drei davon leiblich, der Rest Pflegekinder, so wie er. Von klein auf ist Damian mit dem Wissen aufgewachsen, dass seine leibliche Mutter überfordert war und sich nicht um ihn kümmern konnte. Er erinnert sich, dass sie während seiner
Grundschulzeit oft bei ihm war und mit ihm gespielt hat. Mit den Jahren sind ihre Besuche seltener geworden, bis sie schließlich im Sand verliefen. Seine Halbschwester, auch bei Pflegeeltern lebend, überbringt ihm einmal im Jahr die Glückwünsche seiner biologischen Mutter über Facebook. Auf die Frage, wie Damian das fehlende Interesse seiner Mutter ihm gegenüber empfindet, antwortet der 19-Jährige verständnisvoll: „Klar frage ich mich, warum sie kein Interesse an mir zeigt, aber andererseits kann ich es ihr auch nicht übelnehmen. Sie ist psychisch einfach nicht so stark.“ Als seine Mutter nicht mehr zu den Spielzeiten kam, hätte es einen Moment für ihn gegeben, in dem er sich sagte: „Ja okay, dann halt nicht.“ Dann hat sie noch ein Kind bekommen. Der Junge müsste jetzt ca. fünf Jahre alt sein. Abgeschoben hat sich Damian damals gefühlt, als er erfuhr, dass seine Mutter die Kraft für seinen Halbbruder hat, aber nicht für ihn. Kontakt will er keinen mehr und fügt hinzu: „Wenn sie mir nur einmal im Jahr schreibt, dann braucht sie mir auch gar nicht schreiben.“
Mit 19 Jahren lächeln die Erwachsenen weiße, wenn man sie als „erwachsen“ bezeichnet. Es ist eine Zeit des „Zwischendrin“. Die Kindheit ist schon lange vorbei. Gerade war man noch ein Jugendlicher und ein bisschen ist man es immer noch – gerade so. Es ist eine Zeit der Ablösung von der Familie, obwohl man gerade jetzt seine Familie am dringendsten braucht. Es ist ein Hin und Her, ein ständiges Loslassen und wieder Heranziehen. Eine Zeit, in der man viele Fragen mit sich selbst zu klären hat – wer man eigentlich ist und wohin man in diesem Leben möchte. Es sind schwierige Fragen, aber noch schwieriger ist es, die Antworten auf all diese Fragen zu finden. Am schwierigsten ist es wohl, wenn man seine Wurzeln nicht kennt. Wo soll man hin, wenn man nicht weiß, woher man kommt?
Damian hat sich mit seiner Geschichte nie allein fühlen müssen. Mit manchen seiner Geschwister teilt er eine ähnliche Vergangenheit. In jeder Phase seines Heranwachsens stehen ihm seine Pflegeeltern mit Rat und Tat zur Seite. Alle Fragen zu seiner Herkunft kann er mit ihnen besprechen. Man kann sagen, Damian ist ein zufriedener junger Mann. Er selbst betont immer wieder, wie dankbar er für alles ist. Wäre da nicht diese eine ungeklärte Frage, die sich vor allem nachts wie eine graue Wolke vor seine Gedanken schiebt: „Wer ist mein leiblicher Vater?“ Laut Gesetz hat er mit Erreichung der Volljährigkeit das Recht zu erfahren, wer sein biologischer Vater ist. In der Praxis ist das aber mit Schwierigkeiten verbunden, wenn die eigene Mutter es nicht weiß oder es nicht sagen möchte. Letzteres ist der Fall bei Damian. Er glaubt, sie sagt es ihm nicht, weil sie ihn schützen will. Damian selbst ist zerrissen, was dieses Thema angeht. Einerseits ist er auf seine biologische Mutter wütend, weil er das Gefühl hat angelogen zu werden, andererseits wirft sein Drang, eine Antwort zu erhalten unweigerlich die nächsten Fragen auf: „Wenn ich es weiß, was bringt es mir? Wie würde es weiter gehen? Wenn er die letzten 19 Jahre nicht da war, dann wird er doch die nächsten Jahre auch nicht da sein?“ Aber dann, erzählt Damian, gibt es auch Zeiten, in denen das Herz den Verstand übermannt und die Fragezeichen mit Ausrufezeichen ersetzt werden: „Ich will´s wissen!“ Ein einziger Gedanke: „Ich will’s wissen!“ Zu groß, um ihn zu ignorieren und zu laut, um ihn nur einmal zu denken: „Ich will´s wissen! Ich will´s wissen!“
Als das Land Bayern mit Beginn seiner Ausbildung bei Damian anklopfte und 75 Prozent seines knappen Gehalts zurückverlangte, kämpfte seine Pflegemutter so lange vor Gericht, bis Damian nur noch einen geringen Teil monatlich abgeben muss und er somit auf eigenen Füßen stehen kann. Die Kosten, die man als Pflegekind dem Staat verursacht hat, muss man als Erwachsener anteilig wieder zurückzahlen. Ein weiterer Stempel im Leben eines Pflegekindes und ein weiterer Nachteil auf den Weg in ein normales Leben.
Das Gleichgewicht herstellen
Normal sein: ein Zustand, den jeder anders definiert und doch für den Großteil der Menschen als erstrebenswert gilt. Das gesellschaftlich betrachtet normalste, aber auch geschlossene, Lebensmodell von Vater, Mutter, Kind funktioniert bei einer Pflegefamilie nicht, erklärt Frau Memmel: „Eine Pflegefamilie ist eine öffentliche Familie. Es ist eine ganz besondere Herausforderung, weil man mit vielen Menschen zu tun hat, die an dem Pflegeverhältnis beteiligt sind. Man hat mit dem Jugendamt zu tun, vielleicht mit dem Familiengericht, mit den Vormündern, die regelmäßig in die Familie kommen, um nach dem Kind zu sehen und natürlich mit den leiblichen Eltern, die eine ganz andere Lebensgeschichte haben. Das kann manchmal belastend sein. Dann hat die Pflegefamilie selbst Freunde, Bekannte und eigene Verwandte, die das Gefühl haben, mitreden zu können. Man wird kritischer beäugt. Das ist erst mal die Situation der Pflegefamilie. Die des Kindes ist, dass es eine ganz eigene Geschichte mit in die Familie bringt – und zwar eine sehr schwierige.“
Familie Hubert ist über die Tagespflege zu einer Pflegefamilie geworden. Bei einem Vorbereitungskurs hat man Marion, 36, und Hannes, 42, bildhaft gezeigt, was es bedeutet ein Pflegekind zu sein. Zur Veranschaulichung diente eine Marionette. Eine Puppe mit vielen dünnen Fäden, die alle nach oben zu einem Holzkreuz führen. Jeder Faden steht symbolisch für jemanden, der Einfluss auf das Kind nimmt und es somit in gewisser Weise steuert. Mit diesem Bild im Kopf stellt Marion die Frage: „Was ist ein Pflegekind? Oben habe ich die leiblichen Eltern, auf der anderen Seite sind die Pflegeeltern, dort das Jugendamt und dann habe ich noch die staatlichen Institutionen wie Schule oder Kindergarten, die auch noch an dem Kind herumziehen. Jetzt vergleichen Sie dieses Bild mal mit einem eigenen Kind“, fordert Marion auf und liefert die Antwort gleich mit: „Da stehen nur sie! Umso schwieriger der Rucksack des Kindes ist, umso mehr Fäden ziehen an dem Kind und als Pflegeeltern haben wir die große Aufgabe, dieses Mobile immer wieder in die richtige Richtung zu bringen, sodass das Kind im Gleichgewicht leben kann.“
Der Baum ist nur so stark wie seine Wurzeln
Auch Sozialpädagogin Ziegler warnt davor „normale“ Familie spielen zu wollen: „Selbst wenn die leiblichen Eltern nicht vorhanden sind, ist da ein Band zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie. Es ist nicht wegzudenken und man darf es nicht ignorieren.“ Ihr Rat, um als glückliche Pflegeeltern agieren zu können, ist, dass man nicht in Konkurrenz zur biologischen Familie tritt: „Die leibliche Mutter hat aufgrund der Tatsache, dass sie die leibliche Mutter ist, ein Privileg. Wenn ich Pflegemutter werde, muss ich mir bewusst sein, dass die Krone eine andere trägt.“ Die ehemalige Familienhelferin betont, dass in vielen Familien die biologischen Eltern meist keine große Rolle im Leben der Pflegekinder spielen. Aber selbst bei den Kindern, die nie den Wunsch hatten über ihre leiblichen Eltern sprechen zu wollen, kommt ab einem gewissen Alter die Frage nach den Wurzeln auf.
Darauf hat sich Simone H. mit ihrem Mann vorbereitet. Für Eva sowie ihr zweites Pflegekind, den achtjährigen Philip, haben sie Erinnerungskisten angelegt. Darin enthalten sind die Dinge, mit denen „ihre“ Kinder zu ihnen kamen – ein Schnuller, der Body, das Kuscheltuch. Mehr ist es meistens nicht, das aus der leiblichen Familie mitkommt. Deshalb hat Simone H. Fotoalben erstellt, mit denen ihre Pflegekinder auf Suche gehen können, wenn die Zeit der Fragen beginnt. Auf einem Foto sieht man ein großes „Willkommen“-Banner im Wohnzimmer hängen. Das war der Tag, an dem der damals knapp Einjährige zu seiner neuen Familie kam und sich alle so auf ihn gefreut haben, sodass es egal war, dass der Säugling das Banner nicht lesen konnte. Philips biologische Mutter war überfordert mit ihrem Sohn und platzierte sein Bettchen vor dem Fernseher, der in Dauerschleife lief. Simone H. erzählt, dass er wohl tagelang Erbrochenes auf dem Kopf hatte. Niemand hätte sich um ihn gekümmert. Als Philip zu ihnen kam, „war er so dankbar, dass man ihn angesprochen und sich mit ihm beschäftigt hat“, erzählt Simone H. und fügt freudestrahlend hinzu: „Er ist immer die Ruhe selbst. Mein kleiner Buddha.“ Augenzwinkernd scherzt sie, dass, wenn alle Pflegekinder so pflegeleicht wie Philip wären, sie gerne noch zehn weitere in ihre Familie aufgenommen hätte. Als ihr Pflegesohn wissen wollte, warum er einen anderen Nachnamen als seine Eltern trägt, holten Simone H. und ihr Mann das Fotoalbum, auf dessen Deckel liebevoll PHILIP geschrieben steht. Darin eingeklebt ist auch ein Foto von seinem biologischen Vater – ein sehr großer, dünner Mann; nicht ganz kaukasisch, nicht ganz afroamerikanisch. Schmunzelnd über die blühende Fantasie
ihres Pflegesohns erzählt Simone H. nicht ohne mütterlichen Stolz: „Philip ist fest davon überzeugt, dass sein Vater ein berühmter Basketballspieler ist.“ Niemand weiß, ob der Mann auf dem Bild überhaupt von der Geburt seines Sohnes wusste. Es ist nur bekannt, dass er zurück in die USA gezogen ist. „Manchmal fragt mich Philip, warum seine Mutter ihn nicht besuchen kommt, aber wichtiger war ihm immer zu wissen, wer sein Vater ist“, fügt Simone H. hinzu.
Die Biografie des Kindes nicht unter den Teppich zu kehren ist auch ein großes Anliegen für Familie Hubert. Noch sind ihre Pflegekinder zu jung, aber wenn der Tag kommt, möchten sie zu ihnen sagen können: „Deine Mama hat sich Gedanken gemacht. Sie hat dir Kleidung besorgt, einen Schnuller, ein Kuscheltier. Auch wenn deine Mutter jetzt nicht da ist: Du bist gewollt!“ Marion möchte ihren Kindern das Gefühl nehmen, das viele Pflegekinder entwickeln: Als überflüssige Menschen auf die Welt gekommen zu sein.
Die biologischen Eltern
„Im Endeffekt gilt das Sprichwort Blut ist dicker als Wasser“, zitiert Marion. „Eines unserer Pflegekinder besteht auf die Herkunftseltern. Mittlerweile bin ich so weit, dass ich ihr Blatt und Stift gebe und ihr sage, dass, wenn sie Kontakt zu ihren leiblichen Eltern möchte, sie ihnen schreiben muss. Dann werden wir sehen, was passiert. So hart es klingt, aber die Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen bezüglich der Herkunftseltern machen. Sie
müssen am eigenen Leib spüren, welche Eltern zuverlässig sind und welche nicht“. Marion und Hannes nehmen die angebotene Hilfe vom Staat bereitwillig an. Mit Frau Memmel haben sie die Abmachung getroffen, dass alles, das mit der Herkunftsfamilie zu tun hat, das Jugendamt den Kindern erklärt. Für die Aufarbeitung von psychischen Traumata geht Marion mit ihrer ältesten Pflegetochter zum Kindertherapeuten: „Ich kann natürlich mit ihr über ihre Vergangenheit reden, aber sie wird von mir nicht hören wollen, dass ihre Mutter nicht erziehungsfähig ist.“ Als Pflegeeltern, meint Marion, muss man bereit dazu sein, sich Hilfe bei Psychologen, Ergotherapeuten oder Logopäden zu suchen. „Das klingt blöd, aber da steckt Arbeit dahinter und dafür muss man offen sein“, erklärt Marion und fügt im gleichen Atemzug an: „Aber wenn ich ein Kind möchte, nehme ich es mit Haut und Haaren. Mit allen Problemen, die kommen könnten. Kein Mensch der Welt gibt mir die Garantie, dass wenn ich ein eigenes Kind bekomme, alles super läuft! Mir zerreißt es ein Stück weit das Herz, dass Kinder kein zu Hause finden, weil wir nicht genügend Pflegeeltern haben.“ Auf die Frage, wie sie mit dem Thema der Rückführung umgeht, antwortet Marion souverän: „Manchmal läuft das Leben nicht so wie man will. Wir haben ‘Ja‘ zu dem Kind gesagt, aber immer mit dem Hintergrund, dass das Pflegeverhältnis irgendwann zu Ende sein kann.“
Transparenz
Man müsse mit sich im Reinen sein und wissen, was man als Pflegefamilie aushalten kann, rät Marion: „Nur wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, kann das Jugendamt einen richtig einschätzen und das ‚richtige‘ Kind vermitteln.“ Das ist einer der Hauptgründe, dass es immer weniger Pflegefamilien gibt, schätzt Marion: „Wir sind nicht mehr ehrlich zu uns selbst. Wir müssen lernen, wieder auf unser Bauchgefühl zu hören. Wir müssen wieder mehr Entscheidungen mit dem Herz und aus dem Bauch treffen – und nicht aus irgendwelchen Lehrbüchern. Wir müssen lernen, die Kinder so anzunehmen wie sie sind und uns auf das einlassen, das vor uns liegt. Viele zukünftige Eltern lesen jeden Erziehungsratgeber. Sie wissen über jede mögliche Krankheit Bescheid, aber sie haben noch nicht mal einen Body im Schrank.“ Marion ist überzeugt davon, dass viele Menschen verlernt haben, einander so anzunehmen, wie sie sind: „Bin ich bereit, meine Gegenüber kennenzulernen und mich ganz und gar auf diese einzulassen? Bin ich bereit, vielleicht auch ein Stück von meinem Ego aufzugeben, damit es jemand anderen gut geht?“. Als zukünftige Pflegefamilie sollte man Antworten auf diese Fragen haben, findet Marion: „Man sagt, ein Kind kommt neun Monate lang und es geht neun Monate lang. Diese Zeit sollte man sich auch nehmen, wenn man ein Pflegekind bekommt, egal wie alt es ist.“
Der Faktor Zeit
„Unsere ganze gesellschaftliche Situation hat sich verändert“, bedauert Frau Memmel die schrumpfende Zahl an Pflegefamilien: „Heutzutage ist es nicht mehr normal, dass ein Elternteil für längere Zeit zu Hause bleibt. Es ist erwünscht, dass man schnell wieder im Beruf ist. Die eigenen Kinder werden auch frühzeitig bei der Tagesmutter, in der Krippe und im Kindergarten untergebracht. Es kommt natürlich immer auf die Entwicklung des Kindes an, aber für unsere Pflegekinder ist das oft sehr schwierig“.
Sich selbst Zeit geben, das Kind kennen und lesen zu lernen; dem Kind Zeit geben, ankommen zu dürfen. Zeit – einer der wichtigsten Faktoren für jegliche Beziehungen, die wir pflegen – scheint in unserer schnelllebigen Welt zum Luxusgut geworden zu sein.
Dabei bräuchte es anfangs sehr wenig, meint Therapeutin Anne Herzog: „Weil dieses romantische Bild von Familie haben die meisten Pflegekinder überhaupt nicht. Die Perspektive, die ich den Pflegeeltern anbiete, ist das Kind wie von einem fremden Stern zu sehen. Dort haben ganz andere Regeln geherrscht. Ich rate dazu, als Pflegeeltern mit dem Angebot an Liebe und Bindung ganz basal und schlicht zu beginnen und nicht von meinem bürgerlichen Verständnis auszugehen, dass es das Kind nun besser habe und somit meine Liebe doch annehmen müsse. Das ist, wie wenn ich einem Kind aus Eritrea als erste Mahlzeit einen Schweinebraten mit Klößen anbiete. Das Kind kann dieses Angebot noch gar nicht verdauen!“
Ein Patentrezept gibt es nicht
Zeit, Geduld, ein starkes Netzwerk und den Mut zu haben, sich Hilfe zu suchen, ist wohl die Basis für alle starken und glücklichen Familien. Aber was macht denn nun eine gute Pflegefamilie aus? Dafür scheint es nach aller Recherche kein Patentrezept zu geben. „Es gibt keine typischen Pflegeeltern. Jede Familie ist tatsächlich einzigartig und wenn Sie alle miteinander vergleichen, würden Sie kein gemeinsames Erkennungsmerkmal finden“, meint Frau Memmel. Therapeutin Anne Herzog spricht von „sehr mutigen, im Idealfall emotional starken Menschen, die einiges auch an Frustration und damit an Niederlagen aushalten können und sich vor allem nicht durch das Kind in ihrem Selbstwert nähren.“
Wobei sich alle Fachleute einig sind: Pflegefamilie sein ist eine Aufgabe, die von unheimlich großem, gesellschaftlichem Wert ist. „Eine Aufgabe, die sicherlich nicht einfach ist, wie so vieles im Leben nicht einfach ist, und doch dringend notwendig“, erklärt Frau Ziegler.
So unterschiedlich die interviewten Pflegefamilien auch waren, am Ende hatten sie doch alle eine Gemeinsamkeit. Auf die Frage, ob Sie es noch einmal tun würden, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, waren sich alle einig: Es ist zwar eine Herausforderung, jedoch eine sehr lebensbereichernde. Simone H: „Schließlich ist nicht jeder Tag eine Katastrophe. Die meiste Zeit ist es schön und es wächst alles zusammen. Man ist ja eine Familie“.
Die Namen aller Kinder und deren Familien sind aus Identifikationsgründen geändert worden.
Text: Sonja Och / Bilder: Selina Lange