MenschenKultur

„Mit Ecken und Kanten“ Nürnberg: Wie Imperfektion zum Konzept wurde

Ein Beitrag von Belinda Halimi, Franziska Pinkus, Julia Herschberger, Lea Hoffmann

Produkte mit kleinen Makeln, die anderswo aussortiert werden, finden hier ein neues Zuhause: „Mit Ecken und Kanten“ in Nürnberg zeigt, wie Imperfektion zur Stärke wird und warum nachhaltiger Konsum mehr ist als ein Trend.

An Vormittagen unter der Woche herrscht in dem kleinen Ladengeschäft in der Nürnberger Innenstadt eine angenehme Ruhe. Violett, Gelb und Blau ziehen sich als Akzente an Wänden und Regalen durch den Raum. Zwischen den Kleiderstangen hängen ausgewählte Kleidungsstücke in sanften Erdtönen und dezenten Pastellfarben – ein klarer Kontrast zur knalligen Kulisse. Hinter der Theke steht Chris Shuster (39), Geschäftsführer des Ladens „Mit Ecken und Kanten“. Mit dunklem Hemd und beiger Weste fügt er sich unaufdringlich ins Gesamtbild ein, während er immer wieder prüfend durch den Raum schaut. Das Konzept des Ladens stellt Authentizität in den Vordergrund und lässt Produkte mit kleinen Mängeln eine eigene Wertigkeit erhalten.

Vom Pop-Up zur festen Adresse

Die Idee für „Mit Ecken und Kanten“ entstand 2017 als Online-Shop. Was ursprünglich nur ein virtuelles Konzept war, wurde 2023 plötzlich greifbar – zumindest vorübergehend. Ein Pop-Up-Store nahe des Nürnberger Hauptmarkts sollte das Online-Angebot für einen Monat hautnah erlebbar machen. Was als Experiment begann, wurde zu einer festen Adresse. Dank einer flexiblen Vereinbarung mit dem Vermieter konnte der Pop-Up-Laden zu einem zweijährigen Projekt ausgebaut werden. Der Weg dahin war jedoch kein Selbstläufer. „Es war schmerzhaft“, gibt Chris lachend zu. „Wir brauchten plötzlich eine durchdachte Ausstattung und mussten gleichzeitig den Online-Shop weiterführen.“ Zwei Eröffnungen – eine inoffizielle und eine offizielle – forderten das gesamte Team heraus, doch der Aufwand hat sich gelohnt.

Nachhaltigkeit als Kern des Konzepts

Seit der Gründung hat sich „Mit Ecken und Kanten“ der Nachhaltigkeit verschrieben. Die kleinen Schönheitsfehler der Produkte werden hier nicht als Makel betrachtet. Ob Kleidung, Schmuck oder Postkarten – das Sortiment umfasst alles, was im Handel oft aussortiert wird. Dabei kooperiert „Mit Ecken und Kanten“ mit über 350 Marken, die strengen Kriterien in puncto Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung gerecht werden müssen. „Wir achten darauf, dass unsere Partner:innen transparent arbeiten und faire Bedingungen gewährleisten“, erklärt Chris. Dazu gehören eine umweltbewusste Produktion, transparente Lieferketten und faire Arbeitsbedingungen.

Das Konzept trägt Früchte: monatlich verschickt „Mit Ecken und Kanten“ über 4.000 Pakete in ganz Europa. Mehr als 93.000 Kund:innen haben sich mittlerweile für das Angebot begeistert.  Auf Social Media folgen inzwischen über 100.000 Menschen dem Unternehmen. Diese Zahlen lassen erkennen, dass das Konzept der „Unperfektheit“ bei der Zielgruppe Anklang findet.

Warum Fehler ihren Wert haben

Warum Produkte mit kleinen Mängeln überhaupt akzeptiert werden, erklärt Prof. Dr. Katharina Klug, Expertin für Markt- und Kaufpsychologie an der Hochschule Ansbach: „Wie gut oder schlecht kleine Fehler akzeptiert werden, hängt stark vom Produkt- oder Markenkontext ab.“ Bei nachhaltigen oder handgefertigten Produkten werden kleine Fehler oft als authentisch wahrgenommen. Im Luxussegment hingegen, wo hohe Perfektion erwartet wird, sei das anders. Das kann durch den sogenannten Halo-Effekt erklärt werden: „Bei starken Marken können kleine Fehler oft übersehen werden, da ein positives Markenerlebnis andere Eigenschaften überstrahlt.“ Genau dieses Prinzip greift „Mit Ecken und Kanten“ auf, indem die Unperfektheit nicht versteckt, sondern bewusst inszeniert wird.

Mehr als ein Trend?

Dabei geht es nicht nur um Einzelfälle, sondern auch um die Grundfrage, wie wir als Gesellschaft mit Ressourcen und Konsum umgehen. Chris Shuster sieht in diesem Zusammenhang den Massenkonsum als eines der größten Probleme unserer Zeit. Besonders die Modebranche bezeichnet er als „Treiber Nr. 1“ für Überproduktion und Verschwendung. Doch er macht keinen Hehl daraus, dass auch „Mit Ecken und Kanten“ Teil dieses Wirtschaftskreislaufs ist, der Mieten und Gehälter sichern muss. Der Unterschied zu Großkonzernen, so Shuster, liege für ihn in der klaren Eigentümerstruktur und Transparenz. „Wir wollen, dass unsere Kund:innen nachvollziehen können, was hinter unserem Konzept steckt. Deshalb schauen wir uns jedes Produkt genau an und prüfen die Mängel, damit alles transparent bleibt.“ Für Konsument:innen wird die Entscheidung oft zur Frage der Prioritäten: Wie wichtig sind Funktionalität und Ästhetik eines Produkts im Verhältnis zueinander? Funktionale Fehler, etwa ein Kratzer auf einem Smartphone, stoßen meist auf geringere Akzeptanz, während ästhetische Makel wie Farbfehler oft toleriert werden – insbesondere bei einer Preisreduktion. Die psychologische Akzeptanz solcher Makel, gepaart mit dem Nachhaltigkeitsgedanken, führt zu einer weiteren Frage: Ist Nachhaltigkeit nur ein Trend? Prof. Dr. Katharina Klug sieht hier eine tiefere Veränderung: „Nachhaltigkeit ist mehr als ein Trend – es ist eine grundlegende Entwicklung.“ Sie beschreibt einen Wertewandel, der Konsument:innen dazu bewegt, langfristiger zu denken und bewusster zu konsumieren. Gerade in der Modebranche, wo schnelllebige Trends dominieren, zeige sich, dass Innovationen wie Schuhe aus Pilzleder nicht ausreichen. Stattdessen gehe es um dauerhafte Veränderungen. Ein langlebiger Ledermantel etwa könne ökologisch nachhaltiger sein als vegane Alternativen, die jedes Jahr neu gekauft werden.

Die Einladung zur Unperfektheit

Zurück im Laden, wo die farbenfrohen Regale Akzente setzen und die Möbel aus ungeschliffenen Holzkisten den Raum gliedern, bleibt der Gedanke an die Philosophie von „Mit Ecken und Kanten“ präsent. Chris Shuster betrachtet die Produkte seines Ladens als Einladung: Eine Einladung, sich auf die Idee der Unperfektheit einzulassen. „Wir wollen vermitteln: ‚Hier ist ein unperfektes Produkt, aber es ist absolut brauchbar.’“ Mit einer Handbewegung deutet er auf die Regale und erklärt: „Nur weil ein Produkt bestimmte Standards nicht erfüllt, wird es gleich als minderwertig betrachtet. Das ist in meinen Augen das Problem. Wir legen hier den Finger in die Wunde.“

Der Satz, der bei “Mit Ecken und Kanten” häufig als Leitmotiv verwendet wird, bringt die Philosophie des Ladens treffend auf den Punkt: „A beautiful thing is never perfekt.“ Der absichtlich eingefügte Schreibfehler ist dabei kein Versehen, sondern ein bewusster Hinweis auf die Idee hinter dem Konzept. „Der Satz funktioniert trotzdem, er verliert nicht seinen Sinn”, betont Chris. “Genau wie unsere Produkte.”

Ähnliche Beiträge